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Vorbemerkung

 
Die vorliegende Denkschrift ist eine Auftakterklärung des Denkwerk Demokratie e.V. Sie liefert keine fertigen Antworten, sondern markiert den Beginn unserer Arbeit.
 
Doch wir fangen nicht bei „Null“ an und beschreiben in dieser Schrift eine gemeinsam geteilte Sicht auf die gegenwärtige Lage.
 
Uns eint die Kritik an einem „alten Denken“, das uns in die noch längst nicht überwundene Finanzkrise geführt hat. Dieses Denken bietet keine Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit.
 
Uns eint die Einsicht, dass wir mehr politische und wirtschaftliche Veränderung brauchen, als nur kleinere Korrekturen am Bestehenden oder kurzfristige Krisenprogramme. Wir brauchen ein neues Wirtschaftsmodell: Eines, das sich am Ziel eines „guten Lebens“ für alle orientiert. Eines, das in der Lage ist, ein produktives Zusammenspiel von Innovation und Dynamik, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit zu ermöglichen.
 
Uns ist klar, dass ein solches Modell nicht am Reißbrett entstehen kann. Es folgt nicht dem großen Plan und schon gar nicht dem einen Akteur. Es bedarf der Ideen Vieler und neuer gesellschaftlicher Allianzen. Dieses muss begleitet werden von einem „Neuen Denken“, einer anderen Sichtweise auf die Prinzipien unseres Wirtschaftens.
 
Darum halten wir eine gesellschaftliche Bewegung für ein neues Wirtschaftsmodell für nötig. Eine Bewegung die sich – bei aller Sympathie – nicht auf Protestbewegungen beschränkt, sondern weite Teile der Gesellschaft und auch der Wirtschaft selbst mit einbezieht. Wir brauchen ein neues demokratisches Politikmodell, das Leitplanken definiert und gesellschaftliche Mobilisierung in Gang setzt.
 
Doch damit beginnen die eigentlichen Fragen erst. Wir haben diese in fünf „Denkaufgaben“ gebündelt, an denen wir in der kommenden Zeit arbeiten wollen.
 

Warum wir ein „Neues Denken“ brauchen

 

Die jüngste Finanzkrise ist nicht nur eine wirtschaftliche Krise, sondern auch eine des ökonomischen und politischen Denkens. Sie zeigt uns die tiefen Risse eines Systems, das durch entfesselte Finanzmärkte zerrüttet wurde, das demokratische Gestaltungsmöglichkeiten ebenso wie Vertrauen verloren hat und das durch Staatsverschuldung und Lastenumverteilung Zukunftschancen und -hoffnungen der Menschen blockiert. Dieses Denken hat an Legitimation verloren, weil ihm ein falsches Verständnis von Freiheit und Innovation zugrunde liegt. Die diesem Denken folgende Politik hat die soziale Kluft in vielen Ländern vergrößert und das ökologische Umsteuern blockiert.
 
In den vergangenen Jahrzehnten waren die Maßstäbe für Wirtschaft und Politik oft eindimensional ausgerichtet auf die schnelle Rendite und den Irrglauben, dass hohe Gewinne automatisch zu mehr „Wohlstand für alle“ führen. Die globale Finanzkrise hat viele Bürgerinnen und Bürger, aber auch politisch und wirtschaftlich Verantwortliche zu Recht nachdenklich gemacht.
 
Die Kritik an diesem im Kern wirtschaftsliberalen Denken reicht inzwischen bis weit hinein in das konservative Lager und Teile der Unternehmer/innenschaft. Es ist gut, dass wieder mehr „gesellschaftliche Verantwortung“ eingefordert wird. Doch eine rein moralische Verurteilung von „Gier“ oder „Exzessen“ führt noch nicht zu einem neuen oder gemeinsamen Verständnis von einem besseren Wirtschaftsmodell. Wer die systemischen Ursachen eines finanzgetriebenen, auf schnelle Rendite und Spekulation programmierten Kapitalismus ausblendet, gelangt zu falschen Problemlösungen. Was auf dem Höhepunkt der Krise als gut begründete Kritik am „Finanzkapitalismus“ diskutiert wurde, mündete in die Behauptung, dass die Verschuldung der Staaten die wesentliche Ursache für die ökonomische Destabilisierung Europas sei. Ursache und Wirkung wurden hier aus ideologischen Motiven verdreht.

 

Das „alte Denken“ besteht für uns in der falschen Annahme, dass die Maximierung des Eigennutzes eines Jeden zu einem gesellschaftlichen Wohlstandsoptimum führt. Dieses Denken war schon in der volkswirtschaftlichen Betrachtung stets umstritten. Aber es ist ruinös, wenn ökologische Kosten auf künftigen Generationen abgeladen werden. Die Idee der Sozialen Marktwirtschaft wird auf den Kopf gestellt, wenn Finanzspekulation zu großen Vermögen für Wenige und zu sozialen Folgekosten für Viele führt. Im globalen Maßstab ist es verantwortungslos, wenn große Konzerne oder ganze Nationalstaaten kurzfristige Wettbewerbsvorteile durch Lohndumping, ökologischen Raubbau oder die Privatisierung von Gemeingütern erlangen.
 
„Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht“, so das Diktum eines früheren liberalen Wirtschaftsministers. Jeder Eingriff demokratisch legitimierter Politik in „die Wirtschaft“ wurde über lange Zeit skandalisiert und musste gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt werden. Das alte Denken pflegt den Mythos, Wirtschaft und demokratische Politik seien strikt voneinander getrennte Systeme.
 
Doch Wirtschaft, Politik und Gesellschaft stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang. Einzelwirtschaftliche Entscheidungen wirken sich massiv auf Gesellschaft, Umwelt und Politik aus. Ob und worin investiert wird und welche Arbeitsbedingungen vorherrschen, ist für die ganze Gesellschaft von zentraler Bedeutung. Der Verbrauch natürlicher Ressourcen und die Gestaltung von Produktionsbedingungen führt zu unmittelbaren, sichtbaren und teils irreparablen Eingriffen in die Natur. Zugleich nehmen gut organisierte wirtschaftliche Einzelinteressen einen erheblichen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung und die politische Entscheidungsfindung. Bei aller ideologischen Kritik am „Vater Staat“ wird nach ihm doch stets gerufen – vor allem in Krisensituationen, in denen sich zeigt, dass einzelwirtschaftliches Kalkül nicht mit gesamtwirtschaftlicher Vernunft gleichzusetzen ist: Bei Bankenrettungen, Umweltschäden, Fachkräftemangel oder auch drohenden Massenentlassungen nach Managementfehlern.
 
In den letzten Jahrzehnten dominierte diese alte Denken, trotz wechselnder Regierungen. Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Grundmelodien lauteten: Privat vor Staat, Eigennutz vor Gemeinwohl, Konkurrenz vor Kooperation. Würde man eine Abschlussbilanz dieser Politik vornehmen, wäre diese sowohl in ökonomischer, ökologischer als auch gesellschaftspolitischer Hinsicht negativ. Zugenommen haben die Einkommens- und Vermögensunterschiede und damit die soziale Spaltung und Desintegration. Eine nachwirkende Folgelast des alten Denkens und Handelns ist die ungerechte Verteilung der Einkommen und Vermögen sowie die durch Steuersenkungen und Privatisierungen durchgesetzte Entstaatlichung. Abgenommen hat die Fähigkeit zur politischen Steuerung durch ein demokratisches System und damit die gesamtgesellschaftliche Einflussnahme auf zukünftige Entwicklungsoptionen. Einer unbestreitbaren Dynamik in Teilbereichen der Wirtschaft stehen nicht ausgeschöpfte Potenziale für nachhaltigen Wohlstand gegenüber. Auch wenn an der großen Aufgabe einer ökologischen Wende nur noch wenige zweifeln, bleibt diese hinter ihren Notwendigkeiten und Möglichkeiten zurück.
 
Jedoch stellt sich die Frage, ob wir wirklich schon eine „Abschlussbilanz“ vornehmen können – im Sinne eines aus Fehlern lernenden Rückblicks auf eine vergangene wirtschaftsliberale Epoche. Zwar befindet sich der ungeschminkte Wirtschaftsliberalismus in einer Legitimationskrise. Doch während in Deutschland Forderungen nach allgemeiner Lohnzurückhaltung oder Privatisierungen des öffentlichen Eigentums derzeit an Akzeptanz verloren haben, ist es gerade die deutsche Bundesregierung, die dieses vermeintliche „Erfolgsrezept“ nun von anderen europäischen Staaten verlangt bzw. einseitig auf den Schuldenabbau orientiert. Die deutsche Bundesregierung und ihre „wissenschaftlichen“ Vordenker/innen isolieren sich international zunehmend, politisch ebenso wie intellektuell.
 
Dieses alte Denken ist also nicht überwunden. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten tief in die Institutionen, Strukturen und Mentalitäten unser Gesellschaft eingeschrieben. Durch falsche politische Entscheidungen mehrerer Bundesregierungen sind die Märkte der Demokratie enteilt und es wird viel Kraft kosten, diese Gestaltungsspielräume zurückzugewinnen.
 
Und doch ist der Bedarf an Veränderung in fast schon erdrückender Weise spürbar. In vielen Ländern wird inzwischen über andere Maßstäbe für „Wohlstand“ über das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes hinaus nachgedacht. Konzepte wie „Lebensqualität“ oder „Glück“ werden zunehmend zum Gegenstand der politischen Debatte. In der Wirtschaftswissenschaft wachsen endlich die Zweifel am Menschenbild des homo oeconomicus.
 
Diese Debatten können sie einen wichtigen Beitrag leisten, wieder über den Sinn und den Zweck von Wirtschaft und Politik zu streiten. Aus unserer Sicht besteht deren Aufgabe darin, allen Menschen ein „gutes Leben“ zu ermöglichen. Was ein gutes Leben ausmacht und welche Voraussetzungen dafür erfüllt sein müssen, darüber sollte ein produktive Diskussion geführt werden.
 
Diese ist dringend nötig. Denn auch jenseits des alten wirtschaftsliberalen Denkens gibt es verschiedene Interessen und Denkrichtungen, die nebeneinander stehen, zuweilen auch gegeneinander ausgetragen werden. Langfristige Ziele können in Widerspruch geraten zu betriebswirtschaftlichen Zwängen oder Arbeitsplatzinteressen. Auch stehen die Spielregeln und Zeithorizonte des politischen Tagesgeschäfts einer langfristigen Orientierung nicht selten entgegen.
 
Wir brauchen daher ein „Neues Denken“ über unser Wirtschafts- und Wohlstandsmodell.
 
Neues Denken meint erstens eine andere Sichtweise auf unsere Wirtschaft. Ins Zentrum muss die Frage rücken, welche Vorstellung wir von einem guten Leben haben. Unser Verständnis von Wirtschaft bricht mit einem engen betriebswirtschaftlichen Blick und zielt auf eine „Ökonomie des ganzen Hauses“ ab. Es bezieht die Gestaltung der Arbeitsgesellschaft und die Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, die öffentlichen Güter, den verantwortungsvollen Umgang mit der Natur, die sozialen und demokratischen Teilhaberechte und den globalen Interessenausgleich mit ein.
 
Neues Denken meint zweitens, neue Ideen für einen sozialen und ökologischen Entwicklungspfad zu entwickeln. Wir brauchen neue wirtschaftliche, technologische und politische Konzepte. Dazu gehört auch, dass die Wahl politischer Instrumente übergeordneten Zielen folgen muss. Oft wurden in der Vergangenheit Instrumente – wie „Wettbewerbsfähigkeit“ oder Steuersenkungen – zum Ziel an sich erklärt.
 
Neues Denken meint drittens, dass solche Ziele auch als gesellschaftliche Leitbilder zu verstehen sind, die kollektive Identität stiften und die Einzelnen ermutigen. Konzepte bleiben abstrakt, wenn sie nicht von starken Überzeugungen begleitet werden und Menschen mobilisieren. Menschen machen nicht nur ihre eigene Geschichte, sie müssen sich ihre eigene Geschichte auch erzählen können. Umgekehrt führen bloße Erzählungen ins Nichts, wenn sie nicht auf realitätstauglichen und zielgerichteten Konzepten basieren.
 
Nur: neue gesellschaftliche Leitbilder entstehen nicht im Konsens aller mit allen. Es ist daher überfällig, den Wettbewerb mit den Protagonisten des alten Denkens um die öffentliche Meinungsführerschaft aufzunehmen.
 

Wege aus den Krisen

 
Ein Neues Denken muss die partikulare Sichtweise auf Wirtschaft und Gesellschaft überwinden. Denn wir haben es gegenwärtig mit einer Mehrfachkrise zu tun – einer Krise der Ökonomie, der Ökologie, des Sozialen und letztlich auch der Demokratie. Die Logik des Finanzkapitalismus polarisiert die Gesellschaften nach innen und erschwert den Weg in Richtung Nachhaltigkeit und globaler Gerechtigkeit. Die Anhäufung ungelöster Probleme wiederum lässt die Zweifel an der Funktionsfähigkeit unserer Demokratie wachsen – zumal die deutsche Bundeskanzlerin sogar dafür plädiert, „die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.“ Eine Bankrotterklärung der Demokratie vor den Märkten? Weil die Zyklen dieser Krisen unterschiedlich verlaufen und die Bürger/innen nicht in gleichem Ausmaß betreffen, sind diese Zusammenhänge für viele nur schwer erkennbar. Dennoch müssen wir das Zusammenspiel dieser Teil-Krisen in den Blick nehmen, um eine ganzheitliche Perspektive
entwickeln zu können. Weil es mit Teilreformen inzwischen nicht mehr getan ist, sprechen einige in Politik und Wissenschaft inzwischen von einer nötigen „Großen Transformation“ oder einem „(Global) Green New Deal“.
 
Wir wenden uns gegen konservative und liberale Legende, dass die gegenwärtige Krise in erster Linie di Folge einer zu hohen Staatsverschuldung ist. Der Kern des Problems liegt in der Entwicklung der sozial regulierten Marktwirtschaften hin zu einem durch die Interessen der globalen Finanzmärkte dominierten Kapitalismus. Wer die massive private Vermögenskonzentration und den aufgeblähten und unzureichend regulierten Finanzsektor nicht antastet, wird auch viele andere Zukunftsfragen nicht lösen können.
 
Dabei wollen wir eine hohe Staatsverschuldung nicht bagatellisieren, sondern es gilt, auf ihre Ursachen hinzuweisen. Staatliche Krisenprogramme zur Bewältigung der Finanzkrise und zur Rettung der Banken haben die Schulden in vielen Ländern rapide ansteigen lassen. Zudem sind die erheblichen Leistungsbilanzungleichgewichte zwischen den Staaten und die zu große Spreizung von Vermögen und Einkommen innerhalb der Staaten ein Problem. Die Politik der Entstaatlichung und der Wettbewerb um niedrige Steuern haben die öffentlichen Haushalte geschwächt. In manchen Ländern kommt das Problem einer schlechten Regierungsführung, wie der Ignoranz gegenüber Korruption und Steuerhinterziehung hinzu. Nicht aber die Staatsverschuldung „an sich“, sondern ihre Ursachen sind das eigentliche europäische Stabilitätsproblem.
 
Ein starkes Europa könnte eine wichtige demokratische Antwort auf die wirtschaftsliberale Variante der Globalisierung sein. Doch gegenwärtig ist auch Europa in der Krise. Einige Staaten befinden sich im Teufelskreis aus hoher Verschuldung, einer negativen Bewertung durch „die Märkte“, steigenden Kapitalkosten, öffentlichen Sparprogrammen und stagnierendem Wachstum. Es ist es gerade die konservative deutsche Regierung, die diesen Staaten die Luft zum Atmen nimmt. Doch wenn die Eurozone oder gar die EU zerbricht, steht mehr auf dem Spiel als die Stabilität einer Währung: Es geht um ein historisches Projekt der Zusammenarbeit von Staaten, gerade auch, um ein demokratisches Gegengewicht zur wirtschaftlichen Globalisierung zu schaffen. Es geht um ein Projekt, das den Staaten Europas Sicherheit und Stabilität gebracht hat.
 
Die Kurzfristökonomie des Finanzkapitalismus und die engen Spielräume der öffentlichen Haushalte wiederum erschweren das globale Umsteuern auf einen sozialen und ökologisch nachhaltigen Entwicklungspfad. Da das westliche Produktions- und Konsummodell nicht auf die derzeit sieben (und zur Mitte dieses Jahrhunderts neun) Milliarden Menschen verallgemeinerbar ist, werden wir es verändern müssen. Die Menschheit steht vor der großen gemeinsamen Herausforderung, ihren Ressourcenverbrauch an die ökologischen Grenzen anzupassen. Die hoch entwickelten Industrienationen stehen hier in besonderer Verantwortung – ethisch und technologisch. Die Wachstumsraten in einigen Schwellenländern zeigen, welcher Nachholbedarf gegenüber den hochentwickelten Ländern besteht, aber auch welche inneren und äußeren Konflikte um den Zugang zu Rohstoffen und Lebensgrundlagen diese Entwicklung birgt. Bei aller Faszination, die der Aufstieg Chinas auf den Westen ausübt, darf nicht vergessen werden, dass viele andere Länder von der globalen Wohlstandsentwicklung abgekoppelt sind und 40 Prozent aller Weltbürger/innen mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen müssen. Wir brauchen für die Welt einen nachhaltigen Entwicklungspfad, der den ärmeren Ländern mehr Wohlstand ermöglicht, ohne dem alten ressourcenintensiven Pfad der industrialisierten Länder zu folgen.
 
Es wäre naiv, die große Aufgabe der ökologischen Modernisierung unseres Wirtschaftsmodells angehen zu wollen, ohne auch zugleich die Verteilungsfrage im globalen und nationalen Rahmen zu stellen. Das Einschwenken auf einen Entwicklungspfad, der den ressourcenintensiven materiellen Konsum zugunsten ressourceneffizienter Güter und qualifizierter Dienstleistungen umstellt, funktioniert nur in einer Gesellschaft, die zumindest deutlich „gleicher“ ist als die gegenwärtige. Wenn nachhaltige Produkte und gute Dienstleistungen ihren Preis haben, müssen alle Bürger/innen sie sich auch leisten können bzw. Zugang zu ihnen haben. Moralische Appelle ans „Maßhalten“ gehen ins Leere, wenn sie Attitüde der Privilegierten und Besserverdienenden sind.
 
Ein Neues Denken braucht Impulse von Vordenker/innen und Pionier/innen. Es muss aber letztlich ein gesellschaftliches Projekt sein. Dazu benötigen wir funktionierende demokratische Institutionen im Rahmen einer lebendigen und pluralen Zivilgesellschaft. Doch im globalen Finanzkapitalismus steht auch die Demokratie unter erheblichem Druck. Wirtschaftliche Interessen, zumal der Finanzbranche, sind meist besser organisiert als andere. Komplexe und langfristige Problemlösungen haben es in einer von hektischen Themenwellen getriebenen Medienöffentlichkeit schwer. Regierungen und Parlamente sehen sich
konfrontiert mit dem Widerspruch aus hohen Erwartungen an Politik einerseits und geringeren Gestaltungsspielräumen – auch angesichts knapper Kassen – andererseits. Viele Bürger/innen beklagen zu Recht das Machtgefälle zwischen den wirtschaftlich und gesellschaftlich Einflussreichen und der großen Mehrheit der Bevölkerung, v.a. denen die keine durchsetzungsfähige Lobby haben. Es fehlen starke institutionelle Gegenmächte zur Logik der Finanzmärkte. Auch wenn die Diagnose einer „Postdemokratie“ überzogen sein mag – es gibt Gründe dafür, dass auch die politischen Institutionen an Zustimmung verlieren.
 
Inzwischen mehren sich die Beispiele, dass viele Bürgerinnen und Bürger die demokratische Sache selbst in die Hand nehmen wollen. Die Proteste gegen Atomkraft, gegen Stuttgart 21, die Zunahme von direktdemokratischen Entscheidungen, die Occupy-Bewegung aber auch die wachsende Rolle von NGOs sowie Rückbesinnung auf die Bedeutung von Gewerkschaften zeigen, dass die Ansprüche auf demokratische Beteiligung wachsen. Das Internet eröffnet bislang nicht gekannte Möglichkeiten der Vernetzung und demokratischen Willensbildung über Grenzen hinweg. Es ist ein Verstärker für neue demokratische Partizipationsansprüche und Labor für neue demokratische Partizipationsansätze. Demokratische Kollaboration, das gemeinsame Erarbeiten von Ideen und Lösungen wird Teil der Alltagskultur.
 
Mit der Zunahme demokratischer Beteiligungsansprüche stellt sich auch die Frage: Welche Beteiligung wollen wir für was? Wo ist Beteiligung ein Wert an sich, wo wird sie zur Show? Sind repräsentative Verfahren überholt oder sind sie in unserer komplexen Welt wichtiger denn je? Wird die Beteiligung im Prozess zur Legitimation politischen Handelns wirklich wichtiger als das Ergebnis? Was heißt das für Parteien, Gewerkschaften, Mitbestimmung am Arbeitsplatz, Planungsverfahren und Umweltschutz? Wie können individuelle Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten im kollektiven Rahmen garantiert werden? Welche Mischformen sind denkbar? Wie können wie Transparenz, demokratische Beteiligung und politische Handlungsfähigkeit neu in Einklang gebracht werden? Mehrheitsentscheidungen – zumal, wenn sie nach intensiven Beratungen und plebiszitären Verfahren zustande gekommen sind – müssen gestalterische Planungssicherheit zur Folge haben. Auch in der Demokratie ist das Gemeinwohl nicht gleichbedeutend mit der bloßen Addition von (durchsetzungsstarken) Einzel- und Gruppeninteressen.
 
In einigen Rufen nach „mehr Bürgermacht“ versteckt sich ein populistischer Anti-Parlamentarismus von oben und unten. Beiden Varianten ist nicht nur die pauschale Kritik an „der Politik“ gemein, sondern auch die Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Gruppen, die über wenig Organisations- und Durchsetzungsmacht verfügen. Dieser Anti-Parlamentarismus wird genährt durch eine Entfremdung zwischen Politik und Bürger/innen, eine Haltung des „Durchregierens“ und der unzureichenden Dialog-, Kritik- und Lernbereitschaft. Die Praxis der amtierenden Bundesregierung, die eine öffentliche
und parlamentarische Debatte über den richtigen Weg aus der Krise verweigert und grundlegende Entscheidungen dem öffentlich-demokratischen Prozess zu entziehen versucht, ist dafür ein Beispiel.
 
Diese nur grob umrissenen Krisenerscheinungen der Ökonomie, der Ökologie, des Sozialen und der Demokratie bezeugen, dass wir uns in einer Phase des Übergangs befinden, so wie wir dies vielfach aus der Geschichte des Kapitalismus kennen. Doch Geschichte ist gestaltbar.
 
Eine nur halbherzige Abkehr vom „Wall-Street-Modell“ würde bedeuten, dass die Finanzmärkte der Dreh- und Angelpunkt der Wirtschaft bleiben. Das krisenanfällige Wechselspiel zwischen privaten Vermögen einerseits und öffentlicher Armut undschwacher Binnennachfrage andererseits würde bestehen bleiben. In diesem Modell wird es durchaus mehr „grüne“ Produkte und Dienstleistungen geben, doch letztlich bleibt der Renditedruck der Finanzmärkte auf Realwirtschaft und Arbeitsplätze bestehen. Innovationsblockaden, wirtschaftliche Instabilität, soziale Spaltungen und globale Konflikte um knappe Ressourcen werden die Folgen sein.
 
Ein neues und nachhaltiges „Main-Street-Modell“ müsste dagegen eine innovative Realwirtschaft wieder ins Zentrum rücken. Unser materieller Wohlstand basiert auch in Zukunft auf innovativen und wettbewerbsfähigen Unternehmen und Netzwerken in Industrie- und Dienstleistungssektor. Wir brauchen mehr Ideen, mehr Innovationen und mehr echte Investitionen, um die „dritte industrielle Revolution“ auf einem sozialen und ökologischen Entwicklungspfad voranzubringen.
 
Kurz- und mittelfristig brauchen wir ein nachhaltiges Wachstumsprogramm bis 2020 für Deutschland und Europa. Aus einer Schuldenkrise können sich Staaten nur durch nachhaltiges Wachstum und eine Stärkung der Realwirtschaft befreien. Wir brauchen eine Investitionsstrategie für Europa, an deren Finanzierung sich nicht zuletzt diejenigen beteiligen müssen, die mit großen Vermögen und spekulativen Geschäften die globale Finanzkrise maßgeblich verursacht haben. Dieses Wachstumsprogramm muss einen Beitrag leisten, um Ungleichgewichte zwischen den Ländern der Eurozone und der EU zu reduzieren und es muss gezielte Wachstumsimpulse für den Einstieg auf einen sozialen und ökologischen Entwicklungspfad beinhalten. Ein solches Programm ist die nötige Ergänzung zum so genannten „Fiskalpakt“, der die beteiligten Länder auf einen Kurs der Haushaltskonsolidierung verpflichtet und damit gefährlich einseitig auf nur eine wirtschaftspolitische Zielperspektive ausgerichtet ist.
 
Mittel- und langfristig brauchen wir ein erneuertes Wirtschafts- und Wohlstandsmodell in Deutschland und Europa. Auch dieses wird Interessenkonflikte und zukünftige Krisen und nicht vermeiden können, aber es sollte wirtschaftliches Handeln an der gemeinsamen Zielsetzung des guten Lebens ausrichten.
 

Gutes Leben! Ein besseres Wirtschafts- und Wohlstandsmodell

 
Der grundsätzliche Streit über das für richtig erachtete Wirtschaftsmodell wird oft zwischen zwei Positionen geführt. Die eine betont die Bedeutung von kollektiven Regelungen und eines starken (Sozial-)Staats, die andere legt Wert auf die freie Initiative der/des Einzelnen.
 
Doch richtet man den Fokus auf die Frage, was ein gutes Leben ausmacht, eröffnet sich die Möglichkeit, die freie persönliche Entfaltung und ihre gesellschaftlichen Voraussetzungen als zwei Seiten derselben Medaille zu begreifen.
 
Freiheit bedeutet, das eigene Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können, solange die Freiheit des/der Anderen nicht eingeschränkt wird. Dies setzt voraus, dass die/der Einzelne über die nötigen Befähigungen und Sicherheiten verfügt. Diese wiederum sind eine gesellschaftliche Leistung.
 
Ein gutes Leben kann nicht jeder nur „für sich“ definieren und führen. Gerade weil unsere Gesellschaft sich in viele Identitäten und Teilgruppen aufspaltet, stellt sich die Frage, was sie zusammenhält. Die Arbeitsgesellschaft ist vielfältiger geworden, Interessenlagen haben sich differenziert. Die Pluralisierung von Lebensstilen kann einerseits einen erheblichen Freiheitsgewinn gegenüber früheren Zwängen bedeuten. Andererseits ist es in einer Gesellschaft, die in viele Milieus, Identitäten und Gruppen fragmentiert ist, Aufgabe der gemeinsamen Arbeit an Demokratie eine gemeinsame Vorstellung vom guten Leben zu entwickeln.
 
Die Frage, was ein gutes Leben ausmacht und die Frage nach den Quellen unseres Wohlstands lassen sich nicht voneinander lösen.

In einer marktwirtschaftlichen Demokratie sind die Verantwortung, die Ideen und die Leistungen Einzelner wichtig. Doch diese basieren vielfach auf Gemeinschaftsleistungen im Arbeitsprozess und auf Gemeinschaftsgütern wie Wissen, Natur, Kultur und Infrastruktur.

 

  • Gutes Leben bedeutet die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten. Doch wir investieren zu wenig in gute Betreuung, Bildung und Wissen. Weil unsere Kitas, Schulen und Hochschulen unterfinanziert sind und nicht früh und nicht gut genug fördern, verspielen wir Zukunftsaufgaben. Zum einen holen inzwischen frühere „Niedriglohnländer“ ihren technologischen Wettbewerbsrückstand auf. Zum anderen brauchen wir bessere Bildung und neues Wissen, um Einsichten und Lösungen für eine global tragfähige Wirtschaftsweise hervorzubringen. Auch ist Bildung mehr als die Qualifizierung für eine künftige Dienstleistungs- und Industriegesellschaft, die allen gute Arbeit und ein gutes Leben ermöglicht. Bildung ist Voraussetzung für soziale Chancengleichheit und ein Wohlstandsfaktor an sich. Bildung ist ein Gerechtigkeitsprojekt. Politische Bildung ist die Grundlage für demokratische Teilhabe und Emanzipation.

 

  • Gutes Leben bedeutet Teilhabe an Arbeit und die Vereinbarkeit mit Familie und Freizeit. Die Wohlstandsquelle „Arbeit“ setzen wir nicht sinnvoll genug ein. In den letzten Jahrzehnten hat sich unsere Arbeitsgesellschaft gespalten. Einerseits erleben wir eine Entwicklung zu besser qualifizierten Tätigkeiten. In einigen Bereichen geht dies jedoch mit Tendenzen zur Selbstausbeutung (zum Beispiel in der Solo-Selbstständigkeit) oder der Erwartung an völlige Flexibilität einher. Manche Arbeitskräfte werden überfordert, die Zunahme psychischer Erkrankungen ist eine aktuell diskutierte Folge. Andererseits erodiert die „Normalität“ durch eine Zunahme von prekären und niedrig entlohnten Tätigkeiten. Viele Bürger/innen haben nur wenig Chancen, ihre Potenziale zu entfalten und sich in die gesellschaftliche Arbeitsteilung einzubringen. Gerade weil unser Sozialstaat auf Erwerbsarbeit aufbaut, müssen wir alles dafür tun, die Potenziale in unserer Gesellschaft nutzen, also vor allem die Erwerbsbeteiligung von Frauen, älteren Arbeitnehmer/innen und derzeit Geringqualifizierten zu heben. Ebenso wird die Produktionsintelligenz vieler Arbeitnehmer/innen nicht genutzt. Arbeitnehmer/innen sind nicht nur Kostenfaktor, sondern Träger von Wissen und Erfahrungen. Nicht zuletzt bestehen immer noch
    erhebliche strukturelle Hindernisse für eine echte Gleichstellung und eine gerechte Teilung von Erwerbs- und „Sorgearbeit“ zwischen Frauen und Männern. Wir müssen Arbeitspolitik, die Neubelebung des Gedankens einer Humanisierung der Arbeit, eine menschen- und familiengerechte Arbeitszeitgestaltung und die Herstellung von Work-Life-Balance als eine wesentliche Aufgabe der Wirtschaftspolitik verstehen. Wir brauchen daher ein „neues Normalarbeitsverhältnis“ das dem „ganzen Menschen“ in seinem Lebenszusammenhang gerecht wird, also persönliche Autonomie und Flexibilität (auch entlang der Biografie) sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht, und Gute Arbeit und soziale Sicherheit im Sinne sozialer Bürger/innenrechte zum Maßstab für alle Erwerbstätigen macht. Dazu gehört nicht zuletzt eine leistungsgerechte Entlohnung. Das arbeits- und sozialrechtlich abgesicherte Dauerarbeitsverhältnis sollte wieder als Leitbild gelten.

 

  • Gutes Leben für alle ist nur in einer
    friedlichen und solidarischen Gesellschaft möglich.
    Soziale Gerechtigkeit ist – wie aktuelle Studien zeigen – eine wichtige Voraussetzung für Lebensqualität, Vertrauen und gesellschaftliches Sozialkapital. In einer gespaltenen Gesellschaft bleibt jede Forderung nach einer „demokratischen Bürgergesellschaft“ hohl. Gutes Leben setzt einen Sozialstaat voraus, der Risiken solidarisch absichert und die Bürger/innen in bestimmten Lebenssituationen – junge Familien, bei Krankheit oder Pflegebedürftigkeit, bei Arbeitslosigkeit und im Alter – unterstützt. Ein so verstandener Sozialstaat ist nicht nur „Kostenfaktor“. Soziale Gerechtigkeit wiederum ist auch Voraussetzung für ein ökologisch tragfähiges Wirtschaftsmodell. Nur so ist ein soziales Wachstum im Bereich qualifizierter öffentlicher Dienstleistungen finanzierbar.

 

  • Gutes Leben bedeutet demokratische Teilhabe an den Entscheidungen, die das eigene Leben und die Gesellschaft betreffen. Gerade weil der nötige Strukturwandel viele Bürger/innen in ihrem Alltag betrifft, wird dieser nur im demokratischen Prozess zu erreichen sein. Demokratische Teilhabe in der Wirtschaft bedeutet eine aktive Gestaltung der Lebenswelt – weit über den Bereich der Arbeitswelt hinaus. Die Art und Weise wie wir arbeiten, prägt unser ganzes Leben. Schichtpläne geben den Rahmen für unsere Freizeit vor. Kontinuierliche Überstunden führen zu einem Bilanzminus auf Seiten der Erholungs- und Familienzeit. Unsichere Beschäftigungsverhältnisse – Leiharbeit, Befristungen, Arbeit auf Abruf – befördern Krankheit, Kinderlosigkeit und die Unterordnung des Lebens unter das eine Ziel der – oft hoffnungslosen – Statusverbesserung. Echte wirtschaftliche Mitbestimmung eröffnet aber auch die Möglichkeit zur Weichenstellung für Neues Denken und neue Wege. Zahlreiche Regelungen, Pilotprojekte und Betriebsvereinbarungen z.B. aus dem Stahlbereich belegen dies. Dort, wo die „Sozialpartnerschaft“ funktioniert und nicht allein die schnelle Rendite regiert, sind kreative und soziale Prozessinnovationen wesentlich häufiger zu finden als in Betrieben, in denen Personalpolitik selbst in Zeiten des Fachkräftemangels noch auf Lohnsenkung und Leistungssteigerung reduziert wird. Das gleiche gilt für Produktinnovationen und Produktentwicklung.

 

  • Gutes Leben bedeutet den Zugang zu natürlichen Ressourcen und einer intakten Umwelt. Doch noch immer betreiben wir mit unseren natürlichen Ressourcen einen unverantwortlichen Raubbau. Die zunehmende Erderwärmung und globale Konflikte um knapper werdende Rohstoffe sind Realität. Ein zukünftiges Wohlstandsmodell muss der Tatsache Rechnung tragen, dass die Weltbevölkerung weiter wächst und weniger entwickelte Länder ökonomischen Nachholbedarf haben. Wir müssen ein global nachhaltiges Wohlstandsmodell entwickeln – hierzu gehören auch die Steigerung von Ressourceneffizienz sowie neue Energie- und Mobilitätskonzepte. Es wird ohne den Wandel von Lebensstilen und Produktionsmodellen nicht gehen.
    Doch dies muss kein wirtschaftlicher Nachteil sein: Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass die starke deutsche Umweltbewegung mit ihrer Kompetenz für eine Energiewende inzwischen auch als „Standortfaktor“ für einen wichtigen Leitmarkt der Gegenwart angesehen werden kann?

 

Ein neues Wirtschafts- und Wohlstandsmodell das sich am Prinzip des Guten Lebens orientiert, sollte auf einigen Prinzipien basieren:

 

  • Wir wollen ein produktives Zusammenspiel aus demokratischer gesellschaftlicher Zielsetzung einerseits und unternehmerischer und zivilgesellschaftlicher Initiative andererseits. Der Staat ist nicht omnipotent und auch nicht allwissend. Aber er richtet sein Handeln an gesellschaftlichen (Wohlstands-)Zielen aus, die wiederum demokratisch legitimiert sind. Diese Ziele dienen als Leitplanken für Kreativität und Innovation in Wirtschaft und Gesellschaft. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein Beispiel dafür, dass demokratische Entwicklungsziele und marktwirtschaftliche Innovation kein Widerspruch sein müssen.

 

  • Die Entfaltung von Kreativität und Innovation in der Breite funktioniert nur in einer Wirtschaft, in der übermäßige Marktmacht und Machtkonzentration eingeschränkt werden und die Rechte von Arbeitnehmer/innen und Verbraucher/innen gesichert sind.

 

  • Es ist Aufgabe der Gesellschaft, bzw. des Staates die nötigen öffentlichen Güter bereitzustellen bzw. zu schützen, die Voraussetzung für ein gutes Leben sind. Hierzu gehören nicht zuletzt Gesundheit, Bildung und Wissen, innere und soziale Sicherheit, ein der Realwirtschaft dienender Finanzsektor sowie der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen.

 

  • Dort wo die gegenwärtigen Strukturen und Realitäten diesen Zielen nicht entsprechen, brauchen wir (Transformations-) Pfade (z.B. für den Umstieg auf Erneuerbare Energien oder die Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch) die auf diese Ziele mittel- bis langfristig zusteuern. Diese Pfade sollen Verbindlichkeit, Planungssicherheit für die Akteure sowie Anreize und Offenheit für Innovationen miteinander in Einklang bringen.

 

Ein demokratisches Politikmodell, das sich an langfristigen Zielen und Leitbildern orientiert

 
Wir werben daher für ein Politikmodell, das einen realistischen Blick auf das Machbare hat, aber das Langfristige und Wünschenswerte nicht aus dem Blick verliert. Es versucht, gesellschaftliche Mehrheiten für langfristige Ziele und Leitbilder zu gewinnen, ohne den Anspruch zu verfolgen, jeden Weg dorthin schon zu kennen.
 
Dies bedeutet erstens, Indikatoren und Zielmarken für ein Gutes Leben zu entwickeln, die sich nicht in abstrakten Kennziffern erschöpfen, sondern lebensbezogene Aspekte der sozialen Gerechtigkeit, der demokratischen Beteiligung und der ökologischen Nachhaltigkeit einbeziehen. Weltweit wird an neuen Wohlstandsindikatoren gearbeitet (u.a. derzeit in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages) oder über die Voraussetzungen von „Glück“ und Lebensqualität nachgedacht. Diese Erkenntnisse können den Rahmen für eine solche Zielperspektive abstecken.
 
Zweitens müssen solche Ziele in eine „Erzählung“ vom guten Leben eingebettet werden. Einer Erzählung, die in der Lage ist, neuen Zusammenhalt in einer pluralen Gesellschaft zu stiften.
 
Drittens sind verständliche öffentliche Informationen und ein transparentes Monitoring darüber erforderlich, wie weit wir mit dem Erreichen dieser Ziele sind. Auch dies stärkt die Demokratie und ermöglicht die Politisierung etwaiger Zielkonflikte. So hat beispielsweise die von der Bundesregierung eingesetzte Ethikkommission „Sichere Energieversorgung“ ein Monitoring für die Energiewende vorschlagen, dem die Bundesregierung selbst bislang leider nicht gefolgt ist.
 
Wir brauchen viertens einen
gut aufeinander abgestimmten Instrumentenkasten, um diese Ziele zu erreichen. Dazu gehören (auch neue) Instrumente der Steuerpolitik, der Ordnungspolitik, der Arbeitsmarktpolitik und nicht zuletzt kluge Programme, die Angebots- und Nachfrageförderung verbinden. In wichtigen Leitmärkten kann der Staat eine strategische Pionierfunktion einnehmen. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank muss sich in dieses Zielsystem einfügen. Der Staat braucht ausreichend Einnahmen und neue Finanzierungs-, Gestaltungs- und Anreizinstrumente, um die öffentliche und private Investitionsquote wieder auf Dauer anzuheben.
 
Wir brauchen eine nachhaltige, gesamtwirtschaftliche Strukturpolitik, die diese Überlegungen in eine qualitative Innovations- und Wachstumsstrategie übersetzt. Sowohl die öffentliche Hand als auch die Privatwirtschaft investieren zu wenig in die Zukunft. Hohe private Gewinne führen offenbar nicht zwangsläufig zu hohen Investitionsquoten. Gerade um Kreativität und Innovationen zu entfalten, brauchen wir daher eine Regulierung der Finanzmärkte, einen handlungsfähigen Staat und neue Formen der nachhaltigen Kapitalanlage – mit dem Ziel, Kapital wieder stärker in produktive Kreisläufe zu lenken.
 
Eine derartige Strukturpolitik geht nicht (nur) von einzelnen Unternehmen oder Branchen, sondern von gesellschaftlichen Bedürfnissen aus und fördert neue Leitmärkte und Lösungen. Hierzu gehören unter anderem:

  • Klimaschutz durch erneuerbare Energien und Energieeinsparung,
  • neue Mobilitäts-, Logistik- und Kommunikationslösungen,
  • Ressourcenproduktivität, neue Produktdesigns und nachhaltige Stoffkreisläufe,
  • eine nachhaltige Stadtentwicklung,
  • Gesundheit und Ernährung,
  • Pflege und das Zusammenleben in einer älter werdenden Gesellschaft.

 

Der Boom bei den Erneuerbaren Energien zeigt, dass eine ökologische Industrie- und Strukturpolitik nicht Gegner, sondern Pionier und Triebkraft von marktwirtschaftlicher Innovation ist.
 
Eine nachhaltige Strukturpolitik ergänzt eine industriepolitische Innovationsstrategie um ein soziales Wachstum vor allem in qualifizierten sozialen Dienstleistungen wie Bildung, Pflege und Gesundheit. Deutschland hat hier gegenüber skandinavischen Ländern ein Defizit. Wir müssen unseren Export durch eine stärkere Binnenmarktdynamik ergänzen. Nötig ist eine Verbindung aus besseren Angeboten und einer höheren privaten und öffentlichen Nachfrage. Im Gegensatz zu wirtschaftsliberalen Ansätzen setzen wir nicht auf eine Niedriglohnpolitik, sondern eine Strategie zur Steigerung von Guter Arbeit, Qualität und Produktivität im Dienstleistungssektor. Gerade in einer älter werdenden Gesellschaft ist die gesellschaftliche Organisation qualifizierter Sorgearbeit ein entscheidender Faktor für Zusammenhalt und Zufriedenheit.
 
Im Zuge einer solchen Reformpolitik gilt es auch, die Architektur unseres demokratischen Systems auf den Prüfstand zu stellen. Dazu gehört zum einen eine kritische Revision der Zuständigkeit der politischen Ebenen. Zweifelsohne müssen die Nationalstaaten in einer globalen Wirtschaft mehr wirtschaftspolitische Kompetenz an die EU abgeben. Doch eine europäische „Wirtschafts- und Sozialunion“ ist nur dann ein demokratisches Projekt, wenn wir gleichzeitig die demokratischen Institutionen der EU stärken und eine europäische Öffentlichkeit und Bürgeridentität schaffen. Zum anderen muss dass Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen besser justiert werden. Eine sozialer, ökologischer und demokratisch gestalteter Entwicklungspfad bliebt Wunschdenken, wenn unsere Kommunen finanziell austrocknen und keinerlei eigene Gestaltungskraft mehr haben oder – auch durch jüngste Föderalismusreformen – nötige Bildungsreformen erschwert werden.
 
Das unverkennbare „demokratische Begehren“ der Bürger/innen muss zu mehr Mitwirkungsmöglichkeiten in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft führen. Auch das Zusammenspiel von Staat und Zivilgesellschaft wird
sich ändern. Doch „Governance“ und die Ausweitung demokratischer Teilhabe dürfen nicht neue Machtungleichgewichte und den Ausschluss ganzer gesellschaftlicher Gruppen zur Folge haben. Die Ausweitung demokratischer Prozesse darf nicht zu einer Partikularisierung der Gesellschaft führen.
 
Eine wesentliche Handlungsebene sind für uns die Betriebe und Unternehmen. Dort treffen Unternehmer und Manager wichtige Entscheidungen. Dort verbringt die Mehrheit unserer Gesellschaft einen großen Teil ihres Lebens. In den Betrieben und Unternehmen werden Konflikte ausgetragen, aber es wird auch um Ziele, Kompromisse und Deutungen gerungen. Auch in Unternehmen entsteht „Meinungshoheit“. Betriebsräte und Gewerkschaften sind unverzichtbare Kompetenzträger und demokratische Akteure für eine soziale und ökologische Modernisierung. Wir brauchen eine neue Kultur der Wirtschaftsdemokratie auf der Basis von Arbeitnehmer/innenrechten und einer erweiterten Mitbestimmung in Betrieben, Verwaltungen, Unternehmen, in Regionen und auf europäischer Ebene. Nötig sind Instrumente, um soziale und ökologische Ziele, die wir uns auf gesamtstaatlicher und – wirtschaftlicher Ebene setzen, auch auf die Ebene der Unternehmen übertragen zu können. Nicht gegen – sondern im langfristigen Interesse unserer Unternehmen. Viele Unternehmen aus dem Bereich der solidarischen Ökonomie fungieren als Ideengeber, wie betriebswirtschaftliche Rationalität mit gesellschaftlichen Zielen vereinbart werden kann. Die solidarische Ökonomie sollte daher aktiv unterstützt und ausgebaut werden.

 

Die „Denkaufgaben“

 
Trotz dieser gemeinsamen Einsichten sind viele sich daraus ergebene Fragen noch nicht beantwortet. Als Denkwerk Demokratie stellen wir an uns selbst daher „Denkaufgaben“. Zum einen sind dies Themen, an denen wir in Opposition zum „alten Denken“ gemeinsam arbeiten wollen. Zum anderen thematisieren diese Fragen aber auch Differenzen und offene Fragen zwischen den Akteuren, die sich an der Arbeit des Denkwerk Demokratie beteiligen.
 
Diese Denkaufgaben hängen letztlich eng miteinander zusammen bzw. überschneiden sich sogar. Wir wollen sie daher auch nicht isoliert voneinander bearbeiten, sondern immer das Ganze im Blick behalten.
 
Für den Entwicklungspfad, den wir in dieser Denkschrift noch allgemein und vorläufig skizzieren, gibt es in der Diskussion unterschiedliche Konzepte. Wichtige Stichworte dieser Diskussion in Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft lauten: Qualitatives bzw. selektives Wachstum, Soziales Wachstum, Nachhaltige Entwicklung, Pfadwechsel, Kurswechsel, Green New Deal oder auch Große Transformation. Dabei muss der Ausgangspunkt für alle Konzepte unsere reale, industriell geprägte, stark in die globale Arbeitsteilung integrierte Volkswirtschaft sein. Offen ist die Frage, in welchen Bereichen wir auf dem bisherigen Pfad weitergehen können und in welchen Bereichen ein Pfadwechsel möglich und sinnvoll ist. Ein erster Schritt wäre das markieren von (Entwicklungs-)Zielen und Indikatoren für Wohlstand. In Deutschland widmet sich die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ dieser Aufgabe. Der logische nächste Schritt ist die Frage, mit welchen Instrumenten und auf welchen Pfaden solche Entwicklungsziele in praktische Politik und wirtschaftliches Handeln übersetzt werden können.

 

Die erste Denkaufgabe beschreibt die übergeordnete Fragestellung, aus der sich die anschließenden vier konkreten Denkaufgaben ableiten.
 

  1. Welche wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen (Entwicklungs-)Ziele definieren wir und wie kann ein diesen Zielen folgender Entwicklungspfad beschritten werden?

 

  1. Wie können wir gesellschaftliche Entwicklungsziele und die Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft produktiv aufeinander beziehen?

 

  1. Welchen (neuen) Instrumente im Sinne einer nachhaltigen Strukturpolitik sind nötig, um Investitionen und Nachfrage kurz- und mittelfristig in Richtung eines sozialen und ökologischen Entwicklungspfades zu stärken?

 

  1. Auf welches Leitbild der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und eines modernen Normalarbeitsverhältnis können wir uns verständigen?

 

  1. Welche Gestaltungsaufgaben und welche Perspektiven sehen wir für eine demokratische Wirtschafts- und Sozialunion in Europa?

 

 

Denkwerk Demokratie – Zusammen denken

 
Das Denkwerk Demokratie will den Dialog organisieren und ein Neues Denken fördern. Daher haben sich Personen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft im Verein Denkwerk Demokratie zusammen gefunden. Wir verstehen uns weniger als Think-Tank, sondern eher als ein „Think-Net“, also eine Plattform und Netzwerk für Akteure aus unterschiedlichen Bereichen, die jedoch ähnliche Ziele und Wertvorstellungen teilen.
 
Unser Selbstverständnis lautet: „zusammen denken“ – und zwar in einem doppelten Sinn.
 
„Zusammendenken“ bedeutet zum einen, die verschiedenen politischen Herausforderungen und Widersprüche in ihren Zusammenhängen in den Blick zu nehmen. Zu oft werden Probleme nicht ganzheitlich angepackt. Die Aufspaltung von Politik in Ressortzuständigkeiten wie Wirtschafts-, Umwelt- oder Sozialpolitik ist Ausdruck dieses Problems. Wir sind überzeugt: keine der Krisen von Wirtschaft, Ökologie, Gesellschaft und Demokratie kann für sich allein gelöst werden. Im Zentrum unserer Arbeit steht die Suche nach Ideen, Best-Practice- Ansätzen und Projekten für ein neues Wirtschafts- und Politikmodell.
 
„Zusammen denken“ bedeutet zum anderen, dass Organisationen und Akteure, die sich soziale, ökologische und demokratische Ziele auf die Fahnen schreiben, auf Kooperation und Austausch angewiesen sind, wenn es darum geht, Ideen für eine mittel- bis langfristige Zukunftsgestaltung zu entwickeln und mehrheitsfähig zu machen – gerade weil konservative und wirtschaftsliberale Interessen sehr gut organisiert sind. Auch innerhalb des sozialökologischen Lagers gibt es unterschiedliche Standpunkte und Interessengegensätze. Die Aufgabe des Denkwerk Demokratie ist es nicht, diese Differenzen einzuebnen, sondern sie auszuloten und Wege zu finden, produktiv mit ihnen umzugehen.

 

Die Arbeitsweise des Denkwerk Demokratie zielt auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit ab. Es geht uns nicht darum, in tagespolitische Diskussionen oder koalitionspolitische Entscheidungen einzugreifen, sondern darum, politische Ideen zu entwickeln und mehrheitsfähig zu machen.

  • Wir wollen den Dialog zwischen Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft fördern und intensivieren.
  • Wir wollen Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Arbeit bündeln und für den politischen Diskurs nutzen.
  • Wir wollen konkrete Projekte für ein Neues Denken und in die Diskussion
    einbringen.
  • Wir wollen dazu beitragen, dass es gesellschaftliche Mehrheiten für ein Neues Denken gibt.

 
Die in dieser Denkschrift formulierten „Denkaufgaben“ werden wir im Laufe der Jahre 2012/13 bearbeiten. Erste Antworten wollen wir im Frühjahr 2013 mit einer zweiten Wortmeldung formulieren.